Hängestädte *01
… „allein der Gedanke ,man braucht eine neue Wohnung' ist heutzutage etwas so grausames, daß die Leute nicht einmal mehr von einer wirklich neuen Form des Wohnens träumen können. Denn das Problem der Wohnung ist nicht nur ein Problem der sozialen Organisation und daher – das ist heute die Konsequenz – ein Problem weitestgehender Mobilität.“ 1
Diese Worte von Conrad Roland aus den 1960er-Jahren könnten ebenso gut die aktuelle Wohnungskrise beschreiben. Wohnraum wird zunehmend knapper, die Mieten und Immobilienpreise steigen immer weiter – ein Umzug wird zum Abenteuer. Glücklich kann sich schätzen, wer ein bezahlbares Zuhause hat, und wenn irgend möglich, wird man dieses nicht leichtfertig aufgeben. Die Folge? Verwaiste Einfamilienhausviertel, in denen die übriggebliebenen Bewohner*innen altern und leere Kinderzimmer zurückbleiben, während junge Familien in den Städten um jeden Quadratmeter Wohnfläche kämpfen. Damals wie heute ein Dilemma und eine drängende soziale Herausforderung, denn:
„Was bedeutet heiraten, das erste Kind, das zweite, das dritte? Was bedeutet ein pflegebedürftiger Verwandter, der sich weigert, abgeschoben zu werden? Was bedeutet es, wenn die Kinder älter werden, dann aber der Reihe nach ausziehen, wenn besagter Verwandter stirbt? Jedesmal: eine zu enge, zu große oder – neue Wohnung!“ 2
Mit dieser Zuspitzung prangerte Roland vor allem eine Wohnpolitik an, durch die Wohnungen wie „starre Käfige“ den „wechselnden Bedürfnissen nicht angepaßt werden [können] oder nur mit großem Aufwand." 3 Sein radikales Gegenkonzept: eine ständig variable Raumstadt mit modularen Wohnelementen, eingehängt in riesige Seilnetzkonstruktionen, die leicht, anpassbar und mobil sein sollten.
„Arbeitszimmer und Büroräume würden wir von den Wohnungen entsprechend abrücken, heranwachsende Kinder müßten nicht jahrelang gereizt bei ihren Eltern hocken, das Untermieterelend schaffte sich von selber ab, die katastrophale soziologische Struktur unserer einzelnen Wohnblocks – hier Altengetto oder schickes Apartementhaus mit Junggesellen, alleinstehenden Damen und verwitweten, noch rüstigen Omas, dort unzulänglich-miese Sozialwohnung, bis unters Dach mit Kindern vollgestopft – das alles wäre aufgehoben.“ 4
Seine Ideen fanden in einem inspirierenden Umfeld ihren Ursprung, geprägt von lebhaften Diskussionen „über die Zukunft nicht nur der Architektur, sondern der gesamten Lebensform in den Städten der nächsten fünfzig Jahre.“ 5 Roland war nach seinem Studium am Illinois Institute of Technology in Chicago bei Ludwig Hilberseimer und seiner Mitarbeit im Büro Ludwig Mies van der Rohes aus den USA nach Deutschland zurückgekehrt und arbeitete ab 1961 in Berlin mit Frei Otto an einer Schrift zum Thema „Zugbeanspruchte Konstruktionen für mehrgeschossige Bauwerke“ 6. Fasziniert von Ottos filigranen Tragwerken entwickelte er Konzepte für großflächige Hängestädte, um die Gesellschaft „aus der Zwangsjacke der Architektur, der Schwerkraft, zu befreien“. 7 In einem persönlichen Brief an seinen Vater schwärmte er von Bauwerken, „die so schön und lebendig sein werden wie ein Spinnennetz, wie ein Baum, Bauwerke, die wachsen, sich mit Leben füllen und vielleicht nach Jahrzehnten wieder verwandelt werden, vergehen.” 8
Der Architekt und Visionär war mit seinen Entwürfen seiner Zeit in vielerlei Hinsicht voraus: Ohne es explizit zu benennen, griff er neben der Anpassungsfähigkeit an die wechselnden Raumbedürfnisse der Bewohner*innen auch Themen wie Ressourcenverbrauch, zirkuläres Bauen sowie Flächenfraß und Versiegelung auf – Herausforderungen, die heute zu den zentralen globalen Debatten zählen. Seine dynamischen Strukturen sollten nicht nur ästhetisch überzeugen und maximal flexibel nutzbar sein, sondern auch mit geringem Materialaufwand auskommen. Zudem sah er vor, sie über bestehende Verkehrsflächen wie Gleisanlagen, Schnellstraßen oder Kanäle hinwegzuspannen und bei Bedarf rückstandslos abbauen zu können.
Götz Aly, Historiker, Politikwissenschaftler und Journalist, untertitelte seinen Zeitungsaufsatz „Luftschlösser im Netz“ über die architektonischen Vorstellungen seines Schwagers Conrad Roland bezeichnenderweise mit „Wohnen morgen – Beispiel einer realisierbaren Utopie“. Damit brachte er zum Ausdruck, wie sehr er nicht nur vom theoretischen Potenzial dieser Entwürfe, sondern auch von deren praktischer Umsetzbarkeit überzeugt war. Dass diese visionären Konstruktionen letztlich – in transformiertem Maßstab – auf den Spielplätzen dieser Welt Gestalt annehmen würden, ahnten zu jener Zeit wohl weder Roland noch Aly.
MG, 15.12.2024
1 Götz Haydar Aly: Beispiel utopischer Wohnformen. Fertigbau, Fachzeitschrift für industrialisiertes Bauen, 6. Jahrgang, Heft 8, August 1969, S. 4–7f.
2 Ebd.
3 Götz Haydar Aly: Luftschlösser im Netz. Wohnen morgen - Beispiel einer realisierbaren Utopie. Junge Stimme (Wochenzeitung, Stuttgart), 18.Jahrg., 10. Mai 1969, S.5.
4 Aly (1969): Beispiel utopischer Wohnformen.
5 Brief Conrad Rolands an seinen Vater, undatiert.
6„Mitteilung Nr. 8“ aus der Schriftenreihe der Entwicklungsstätte für den Leichtbau.
7Aly (1969): Beispiel utopischer Wohnformen.