Ordnungssystem *01

Migration oder Integration? Conrad Rolands Ordnungsprinzip und die Grenzen des klassischen Archivs
Mechthild Ebert

Archive basieren auf Ordnungssystemen, die Materialien strukturieren und den Zugang erleichtern. Im besten Fall sind diese flexibel genug, um unterschiedliche Kontextualisierungen zu ermöglichen und Bestände für eine Vielzahl von Forschungsfragen interdisziplinär anschlussfähig zu machen. Doch wie geht man mit einem Nachlass um, der ein eigens entwickeltes, hochspezifisches Ordnungssystem mit sich bringt? Diese Frage stellt sich bei der Inventarisierung des Werkarchivs von Conrad Roland. Neben den klassischen Materialien eines Architekturnachlasses umfasst sein Archiv eine einzigartige Strategie der Wissensorganisation, die nicht nur eine strukturelle Herausforderung darstellt, sondern auch grundsätzliche Überlegungen zum Umgang mit archivalischer Ordnung aufwirft.

Über ein Jahrzehnt widmete sich der Architekt Conrad Roland im Rahmen seines Dissertationsprojekts der Erforschung von Hängehäusern. Um die Inhalte und Materialien, die er bei Architekturbüros weltweit zu geplanten und realisierten Projekten anforderte, übersichtlich, vergleichbar und nutzbar zu machen, entwickelte er eine „morphologische Matrix“. Dieses Werkzeug der Wissensorganisation war sein Schlüssel, um die unterschiedlichen Konstruktionsprinzipien systematisch zu kategorisieren. Die dazugehörige Materialsammlung umfasst Briefe, Skizzen, Fotografien, Pläne und unzählige handschriftliche Notizen. Fast könnte man seine Arbeit als enzyklopädisches Nachschlagewerk für Hängekonstruktionen des 20. Jahrhunderts betrachten, auch wenn es fragmentarisch geblieben ist.

Kern seines Systems war eine farbcodierte Syntax, die mit einfachen Mitteln funktionierte: farbige Klebepunkte, die teilweise in farbige Quadrate eingeschrieben waren, Post-its und maßgefertigte Aufbewahrungsmöbel. Jede Farbe, jedes Quadrat und jeder Punkt hatte eine spezifische Bedeutung und ermöglichte eine intuitive Orientierung im Material. Diese Herangehensweise weist Parallelen zum Zettelkastenprinzip des Soziologen Niklas Luhmann auf. Luhmanns Karteikartensammlung mit rund 90.000 Einträgen verknüpfte Wissen assoziativ statt hierarchisch und war – wie Rolands Farbcodierung – weit mehr als ein reines Ordnungssystem: Sie diente als Denkwerkzeug, das kreative Verknüpfungen ermöglichte und statisches Wissen in ein dynamisches Netzwerk überführte. Auch wenn Rolands System vollständig analog war, kann seine Methodik als eine frühe Form des vernetzten Denkens verstanden werden, das heute durch digitale Tools wie Metadaten, Tagging und Hyperlinks unterstützt wird. Begriffe, die heute zum Standard digitaler Wissensorganisation gehören, scheinen in Rolands Ansatz bereits angelegt zu sein. Die Offenheit von Rolands Methode, die ein sich ständig erweiterndes Wissensnetz bildete, war sowohl eine Stärke als auch eine Schwäche. Während digitale Datenbanken theoretisch unbegrenzt erweiterbar sind, stößt man bei physischen Archiven unweigerlich an Grenzen. Außerdem machte die Möglichkeit der ständigen Erweiterung das Werk schwer „abschließbar“. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass es letztlich unvollständig und unveröffentlicht blieb.

Die Integration von Rolands Nachlass in das saai | Archiv für Architektur und Ingenieurbau stellt sich als Balanceakt heraus. Um die Materialien langfristig zu erhalten, wurden die einzelnen Dokumente zunächst aus ihren farbcodierten Originalumschlägen genommen und archivgerecht umverpackt – eine Entscheidung, die den logischen Aufbau seiner wissenschaftlichen Methodik außer Acht ließ. Hier zeigt sich ein zentrales Dilemma: Wie lassen sich Rolands ursprüngliche Ordnungsprinzipien bewahren? Lässt sich sein System überhaupt in eine statische Archivstruktur überführen, ohne seine innere Logik zu verlieren? Ist seine Forschungsarbeit als Sammlung von Einzelobjekten zu verstehen oder kann sie nur als geschlossene Einheit vollständig erfasst werden?

Diese Fragen betreffen nicht nur die praktischen Archivierungsprozesse, sondern auch die wissenschaftliche Interpretation und Kontextualisierung des gesammelten Wissens. Sie verdeutlichen, dass Archivierung weit über die reine Erhaltung von Materialien hinausgeht – sie ist immer auch eine Form der Deutung und Entscheidung.

MG, 25.2.2025

Mechthild Ebert

Originale Versandtasche von Roland beschriftet und mit einem Farbcode versehen – ein Beispiel für seine thematisch organisierte Materialsammlung. Die Karten mit den Legenden entschlüsseln Rolands Farbsystem – zumindest teilweise. Neben seriösen Kategorien finden sich augenzwinkernde Beschreibungen, die zeigen, dass sein Ordnungssystem nicht nur funktional, sondern auch humorvoll war. 

Mechthild Ebert

Zahlreiche Listen zeigen, bei welchen Büros und in welchen Ländern Roland Informationen zu seinen Forschungsobjekten gesammelt hat, jeweils mit Datum versehen. Die Bedeutung der farbigen Klebepunkte erschließt sich nicht auf den ersten Blick.